Der große Gleichmacher

Fast jeden Tag kommt Luise Kühn zum Friedhof an der Bergmannstraße. Sie nimmt sich eine der Plastikgießkannen, die im Rücken des steinernen Jesus aufgereiht hängen und geht hinüber zum Grab ihres Mannes. „Meinen Mann begießen“ nennt die 75-Jährige diese Besuche, die sie seit sechseinhalb Jahren abstattet. Seit ihr Mann an einem Herzinfarkt starb. Auf dem schlichten Grabstein aus dunkelgrauem Granit, steht in goldenen Buchstaben unter dem Namen ihres Mannes ihr eigener. Auch ihr Geburtsdatum steht dort: 6. Juni.1934, das Todesdatum ist noch offen. Sie findet es nicht seltsam, jeden Tag ihren Namen auf einem Grabstein zu lesen: „Warum? Ist doch schön zu wissen, wo ich einmal liegen werde.“   Sehr viele der rund 35.000 Menschen, die jährlich in Berlin sterben, wissen das nicht. 39 Prozent aller Bestattungen sind anonym. Um fast 20 Prozent ist die Anzahl in den letzten 15 Jahren gestiegen. Anonym bedeutet, dass die Urne mit der Asche des Verstorbenen auf irgendeinem Friedhof spurlos unterm Rasen verschwindet. Kein Grabstein, kein Namensschild. Die Erinnerung an einen Menschen muss bezahlt werden, viele können oder wollen das nicht. Auch die Zahl der Bestattungen, für die das Sozialamt aufkommt, steigt von Jahr zu Jahr. Rund 3.200 waren es im vergangenen Jahr, Tendenz steigend. Die Anonymität der Großstadt, die Losgelöstheit von engen Familienstrukturen, die viele zu Lebzeiten schätzen, können ganz schön traurig sein, wenn es ans Sterben geht.   Luise Kühn wurde von ihren Eltern nach der Preußenkönigin Luise benannt, die 1810 mit 34 Jahren an einer Lungenentzündung starb. Friedrich Wilhelm III ließ für seine Frau im Charlottenburger Schlosspark ein Mausoleum errichten, ein rührendes Denkmal einer großen Liebe im Zeitalter der Vernunftheirat. Die Untertanen pilgerten in Scharen dorthin, um der beliebten Königin zu gedenken. Solch ein romantisch-überschwänglicher Umgang mit dem Tod liegt den Berlinern ansonsten eher fern. Von Todeskult, wie man ihn in katholisch-barocken Städten findet, keine Spur. Keine „schöne Leich“, wie in Wien die pompösen Begräbnisse genannt werden, keine zu schaurig-schönen Ornamenten arrangierte Knochen und Totenschädel, wie sie in den Katakomben in Rom zu finden sind. Selbst die Gruft der Hohenzollern im Berliner Dom strahlt mit den artig aufgereihten Särgen unter gedimmten Kugellampen die schmucklose Sachlichkeit einer Behörde aus. Die Kombination von Protestantismus mit dem auch nicht gerade für sinnlichen Überschwang berühmtem Preußentum hat zu einem sehr nüchternen Umgang mit dem Tod geführt. Auch das große Sterben durch den „schwarzen Tod“, die Pest-Epidemien im 16. Jahrhundert, das sich tief ins kollektive Bewusstsein und mit Skulpturen und Votivkirchen ins Stadtbild vieler europäischer Städte eingeprägt hat, hat in Berlin keine Spuren hinterlassen, zu klein und unbedeutend war die Stadt damals noch.   Wer das Bizarr-Makabere sucht, das „Memento Mori“, das die Lebenden in drastischer Klarheit ihrer Sterblichkeit gemahnt, wird in Berlin nicht im religiösen Kontext fündig, sondern im naturwissenschaftlichen. Embryonen mit zwei Köpfen in Formaldehyd, von Krebs-Metastasen zerfressene Knochen, großkopfige Babyskelette, den Mund, mit den vier noch frischen Zähnchen zum Grinsen verzogen, der 60 Kilogramm schwere Dickdarm eines 32-Jährigen, der an Kotstau verstarb – die Präparate Rudolf Virchows im Medizinhistorischen Museum der Charité sind nichts für Zartbesaitete. Sein „liebstes Kind“ nannte der berühmte Pathologe diese Sammlung, die einst 10.000 Präparate umfasste. Viele wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört, rund 1.000 sind heute in einer ständigen Ausstellung zu sehen.   221 Friedhöfe gibt es in der Stadt, 87 davon sind unter kommunaler Verwaltung, 118 unterstehen der evangelischen Kirche, neun der katholischen. Außerdem gibt es fünf jüdische Friedhöfe, einen russisch-orthodoxen und einen muslimischen. Der muslimische Friedhof ist zum einen viel älter, als man annehmen würde: Bereits 1866 gegründet, befindet sich hier unter anderem das Monument für den 1798 verstorbenen Dichter und Mystiker Ali Aziz Efendi, einst türkischer Botschafter in Preußen. Zum anderen ist er auch viel kleiner, als man angesichts der vielen in Berlin lebenden Muslime vermuten würde. Wenige Gräber nur, die Steine einheitlich Richtung Mekka ausgerichtet, liegen zu Füßen der Moschee am Neuköllner Columbia-Damm. Aus versteckten Boxen klingt die Stimme des Muezzin, an einem Souvenirstand kann man heilige Schriften kaufen, Postkarten und Kapuzensweatshirts mit der Aufschrift „Sultan Mehmet the Conquerer“. Auf dem Hof der Moschee liegt auch ein Reisebüro, das neben Billigflügen die Rückführung von Toten anbietet. Über 90 Prozent der in Deutschland verstorbenen Muslime lassen sich in die alte Heimat zurückführen. Das liegt daran, dass deutsche Friedhofsatzungen sich mit islamischen Beerdigungsvorschriften nicht vereinbaren lassen: Muslime werden ohne Sarg beerdigt, was in Deutschland verboten ist, und muslimische Gräber dürfen keinesfalls, wie hierzulande üblich, neu belegt werden.   Die Verwurzelung im Glauben macht den Umgang mit dem Tod leichter. Davon ist die Beerdigungsunternehmerin Claudia Marschner überzeugt. „Der Tod ist viel schwerer für jemanden, der nicht zumindest vom Jenseits träumt“, sagt die Mittvierzigerin, die in Rollkragenpullover und Adidas-Trainingshose in ihrem hellen Büro sitzt. Die Wand ist bunt bemalt mit einem Buddha, der in Wolken schwebt. Ein Sarg aus Korbgeflecht steht neben einer Urne, die mit einem roten Neon-Herz geschmückt ist. Marschners Firmensitz liegt im Epizentrum ungläubigen Hedonismus, in Kreuzberg, sie selbst aber hat, wie sie sagt, „kein Problem mit Gott.“ Sie ist so etwas wie die bunte Hündin der Berliner Bestatterszene, von traditionellen Instituten wird sie gerne mal als pietätlos geschmäht. „Event-Bestatterin“ nennt sie sich selbst und hat ein Buch mit dem Titel „Bunte Särge“ geschrieben. Sie plant Beerdigungen mit von Sprayern gestaltete Särgen, Rockmusik und Feuerschluckern am Grab. Dabei geht es überhaupt nicht darum zu schocken, sondern darum, den Verstorbenen gerecht zu werden. 1992 hat sie sich selbstständig gemacht, nachdem sie zwei Jahre in einem traditionellen Bestattungsinstitut gearbeitet hatte. Sie war unglücklich über die düster-muffige Atmosphäre, die immer gleichen dunkelbraunen Särge, die hässlichen Trauerkarten. „Das war im Grunde lieblos“, sagt sie. Es war die Zeit, als das rasante Sterben HIV-positiver Menschen die Stadt bewegte. „Ich habe gedacht: Mal ehrlich, da ist ein 30-jähriger DJ gestorben. Dem kann ich doch nicht mit dem braunen Sarg Modell „Wiesbaden“ kommen.“ Sie schaltete eine Anzeige im Schwulenmagazin „Siegessäule“ mit einem Foto von sich selbst. „Jung, offen und freundlich“, hieß es da. „Die junge Bestatterin im Schwulenmagazin, das war so eine Art Skandal“, erzählt sie.   Mit ihrem Ansatz hat sie zwar für viel Medienecho gesorgt, ist aber in der Branche aber eine Ausnahme geblieben. In Berlin, davon ist Claudia Marschner überzeugt, wollen die Menschen noch weniger über den Tod nachdenken als anderswo. Viele ziehen hier her, um der provinziellen Enge zu entkommen und alternative, freie Lebensentwürfe realisieren zu können. „Hier ist Sodom und Gomorra“, sagt sie und lacht. „Alle wollen gerade hierher, weil hier das Leben nicht von Religion und Konventionen bestimmt wird. Im Tod holt es einen dann oft wieder ein.“ Auf einmal wollen dann viele doch lieber einen Pfarrer, eine Zeremonie wie sie immer war, einen Grabstein, der aussieht wie jeder andere. Es ist auffallend, dass in einer Stadt, in der es von Künstlern nur so wimmelt, kaum interessante zeitgenössische Grabmonumente zu finden sind.   Die individuelle Ausgestaltung einer Beerdigung, davon ist die Malerin Marlies-Kathrin Föllmer überzeugt, kann den Angehörigen den Abschied erleichtern. Föllmer bemalt Särge und Urnen, malt einen Ozeandampfer für einen Jungen, der davon träumte, Kapitän zu werden oder die Himalaja-Bergkette für den passionierten Tibet-Reisenden. Sie fühlt sich von traditionellen Bestattern gemobbt und erzählt, dass die Berliner Bestatter-Innung ihre Telefonnummer auch auf Anfrage nicht weitergibt. „Viele von denen sind total erstarrt“, sagt sie.   Föllmer und Marschner finden, dass der lebendigere Umgang mit dem Tod, wie er in anderen Ländern praktiziert wird, besser wäre, als die floskelhaften Standards, die Pietät genannt werden, aber im Grunde Verdrängung bedeuten. In der Multi-Kulti-Stadt Berlin kann man einen Eindruck von solch einem anderem Umgang bekommen: Jährlich zu Allerheiligen veranstaltet der Verein Calaca ein mexikanisches Totenfest. Das findet hier zwar nicht wie in Mexiko üblich auf dem Friedhof statt, Totenköpfe aus Zucker, tanzende Knochenmänner und fröhliche Musik geben aber einen Eindruck davon, wie es auch sein könnte. Auf einem dieser Feste hat Claudia Marschner einen Sarg zur Bemalung freigegeben. Während die Erwachsenen zögerten, hatten Kinder keinerlei Berührungsängste, den Sarg mit bunten Farben zu verzieren. „Alle Kinder haben eine Vorstellung vom Jenseits“, sagt sie. Deshalb hat sie sich das Projekt „Post to Heaven“ ausgedacht. Kinder, die ihre Eltern verloren haben, schreiben ihnen Briefe, die dann einmal im Monat in einem feierlichen Ritual mit dem Segen einer Pfarrerin im Krematorium verbrannt werden. „Das kann ein Trost sein, eine Brücke zwischen Diesseits und Jenseits.“   Die Beschäftigung mit dem Tod muss nicht deprimierend sein, findet Claudia Marschner. Sie kann sogar dabei helfen, die kleinen Sorgen des Alltags etwas gelassener anzugehen. „Man muss beispielsweise nicht durchdrehen, wenn man eine Falte hat, ich kann Ihnen verraten: Am Ende spielt es echt keine Rolle.“

FOTO: BETTINA HOMANN buy retin-a cheap Cialis buy Alesse